Die digitale Herausforderung: Intelligenter Einzelhandel für die vernetzte Stadt

In diesem Artikel beschreibt Thomas Jäger, Architekt bei Chapman Taylor in Düsseldorf, wie sich der stationäre Einzelhandel erneuern muss, um im digitalen Zeitalter erfolgreich zu bestehen.

Der digitale Wandel stellt den stationären Einzelhandel vor große Herausforderungen. Während der Umsatz von Online-Anbietern nach neuesten Studien bis 2020 einen Anteil von 30% am Einzelhandelsvolumen erreichen wird, könnten die Umsätze in den Fußgängerzonen und Einkaufszentren im gleichen Zeitraum um 10% sinken. Wie aktuelle Kundenanalysen zeigen, wird der stationäre Einzelhandel langfristig nur dann eine Chance haben, wenn er sich auf seine spezifischen Stärken besinnt, digitale Innovationen erfolgreich integriert und so die Trennung zwischen On- und Offline-Handel überwindet.

Vernetzte Städte

Die vernetzte Stadt ist in aller Munde: Durch den umfassenden Einsatz schneller Computernetzwerke, neuartiger Sensoren und ein intelligentes Datenmanagement soll die städtische Infrastruktur leistungsfähiger und ressourcenschonender und die Kommunikation zwischen den Bewohnern und Behörden leichter und effektiver gemacht werden. Über allem steht das Ziel, das städtische Zusammenleben mittels Informationstechnologien effizienter und nachhaltiger zu organisieren und den Bewohnern langfristig gesunde und komfortable Arbeits-, Freizeit und Wohnumgebungen zu bieten. Eine der ersten Städte, die vollständig nach diesem Konzept der Smart City geplant wurden, ist Songdo City (Südkorea), wo alle Versorgungs- und Entsorgungsnetze, sowie die öffentlichen Transport- und Energiesysteme über ein zentrales Computernetzwerk gesteuert werden und Smart Cards den Bewohnern gleichzeitig als Ausweis, Schlüssel und Geld dienen. Bestehende Städte werden Konzepte und Technologien, die sich in diesem prototypischen Umfeld bewähren, übernehmen, wenn Fragen des Datenschutzes und der Datensicherheit überzeugend gelöst sind.

Online-Handel technologisch in Führung

Als Teil dieser übergeordneten Entwicklung sind die gegenwärtigen Bestrebungen zu sehen, den stationären Einzelhandel mittels digitaler Technologien innovativer und kundenfreundlicher zu gestalten, um so zwischen den Unternehmen und Kunden eine langfristig positive Beziehung zu etablieren. Impulsgeber ist dabei der Online-Handel, der überall auf der Welt zunehmend Marktanteile gewinnt und dem Offline-Handel durch den Einsatz aktueller Kommunikations- und Computertechnologien strukturell überlegen zu sein scheint. Online-Händler wissen mehr über ihre Kunden, sie haben das größere Sortiment, bessere Preise, sie liefern innerhalb kürzester Zeit bis nach Hause – und sie wickeln Service-Anfragen und Reklamationen oftmals schneller und professioneller ab. Ihr technologischer Vorsprung verleitet manchen Beobachter schon zu der Ansicht, dass der stationäre Einzelhandel langfristig überhaupt keine Zukunft mehr hat.

Stärken des stationären Handels

Dabei bieten Ladengeschäfte traditionell Vorzüge, die der Online-Handel auch mit einem noch so großen technologischen Aufwand nicht imitieren kann: Der Kunde kann die Waren vor Ort aus- oder anprobieren, er kann ihre Haptik und Ergonomie beurteilen, bevor er eine Kaufentscheidung trifft. Bei Fragen kann er sich von erfahrenen Verkäufern beraten lassen, und im Reklamationsfall hat er persönliche Ansprechpartner, die sich um sein Anliegen individuell kümmern – denn nichts ist flexibler und interaktiver als ein engagiertes, menschliches Gegenüber. Bei Gefallen kann er die Ware sofort nach Hause mitnehmen, wodurch sich das Einkaufserlebnis unterbrechungsfrei und intensiver gestaltet. – Aber all das zählt im Augenblick nur, wenn die Auswahl vor Ort ausreichend groß ist, die Preise mit dem Online-Angebot konkurrenzfähig und das Personal qualifiziert und freundlich ist. Und wenn der Kunde nicht für die Beratung, das Anprobieren oder Bezahlen zu lange in der Schlange stehen muss.

Das Beste aus beiden Welten

Wie wäre es, wenn man die Vorteile des Online-Handels mit den Vorteilen des Offline-Handels kombinieren könnte? Das Ergebnis sind jene Ansätze, die gegenwärtig unter dem Begriff Multi-/Omnichannel-Marketing oder Hybrid-Retailing diskutiert werden und die auf einer übergeordneten Ebene als Smart Retailing-Strategien zusammengefasst werden können. Allen Ansätzen gemeinsam ist die Erkenntnis, dass der Online- und Offline-Handel langfristig nicht mehr als getrennte Sphären mit jeweils eigenen Bestell- und Vertriebswegen und einer unterschiedlichen Preisbildung anzusehen sind, sondern dass sie künftig technisch und organisatorisch nahtlos miteinander zu einer einzigen Einkaufssphäre verwoben sein werden. Am Ende der Entwicklung wird der Kunde jederzeit – ob zu Hause, unterwegs oder im Geschäft – frei entscheiden können, wie und wo er seinen Einkaufsprozess beginnt, fortsetzt und abschließt und dabei von allen Errungenschaften des Online-Handels und der sozialen Netzwerke auch im Ladengeschäft profitieren.

Intelligenter Einzelhandel

Was bedeutet das in der Praxis? Der Kunde kann zu Hause, mobil oder im Laden bestellen und sich die Ware an eine Adresse oder in eine Filiale seiner Wahl liefern lassen. Dabei kann er im Bestellprozess jederzeit von einer Option zur anderen wechseln. Retouren werden zu Hause oder an einem beliebigen Ort abgeholt oder im Geschäft abgegeben. Der Kunde wird künftig im Laden automatisch erkannt und auf dem Smartphone oder der Smart Watch begrüßt. Er erhält persönliche Empfehlungen auf Basis seiner vergangenen Online- oder Offline-Käufe, sowie individuelle Sonderangebote, die er online oder offline annehmen kann. Für Käufe, Empfehlungen und Meinungen in sozialen Netzwerken erhält er Punkte oder Gutscheine, die er sowohl online als auch offline einlösen kann. An den Waren befinden sich Smart Tags, mit deren Hilfe er Informationen, Meinungen und Alternativen zu dem Produkt abrufen kann und die alle Ressourcen, die online zur Verfügung stehen, auch offline verfügbar machen. Produkte, die seinem Interessenprofil entsprechen, aber nicht in seiner Größe oder Farbe vor Ort auf Lager sind, werden ihm auf dem eigenen Smartphone oder auf 3D-Screens präsentiert. Kleider kann er in virtuellen Umkleidekabinen an seinem Körper live begutachten. Schnappschüsse davon kann er abspeichern und an Freunde schicken oder in sozialen Netzwerken präsentieren. Für alle Online-Aktivitäten, die die Aufmerksamkeit für das Produkt oder die Marke steigern, erhält er unmittelbar Punkte und Gratifikationen. Der Bezahlvorgang wird durch integrierte Technologien so vereinfacht und beschleunigt, dass er sich künftig fast unmerklich vollzieht (Self-Checkout).

Innovative Einkaufswelten

Für die Innenarchitektur bedeutet das, dass der Unterhaltungs- und Event-Charakter in den Geschäften zunehmend an Bedeutung gewinnt. Die Geschäfte werden Orte für bereichernde und interessante Erfahrungen, die das Potential haben, die Kunden langfristig an eine Kette oder Marke zu binden. Ziel ist es, dass die Kunden die Geschäfte aufsuchen, weil sie mit individuell zugeschnittenen Angeboten persönlich überrascht werden und für ihr Interesse und ihre Loyalität unmittelbar belohnt werden. Erfolgreiche Ladenkonzepte motivieren die Kunden dazu, sich mit den Produkten des Anbieters länger und intensiver zu beschäftigen und letztlich höhere Umsätze zu generieren. Gastronomische Angebote wie Coffee Bars oder Food Lounges stellen in diesem Zusammenhang eine logische Ergänzung reiner Handels- und Präsentationsflächen dar, die auch heute schon selbstverständlicher Teil progressiver und erfolgreicher Einzelhandelskonzepte sind. Voraussetzung dafür ist eine leistungsfähige IT-Infrastruktur, die das Streaming breitbandiger Multimedia-Inhalte, große hochauflösende Bildschirme und Projektionen, kostenloses, blitzschnelles W-LAN und diverse Bluetooth-Funktionalitäten bereitstellt, die die smarte Interaktion mit dem Kunden – z.B. mittels Smart Beacons – ermöglichen.

Vom Konzept zur Umsetzung

Werden all diese Bemühungen automatisch erfolgreich sein? Wahrscheinlich nicht. Dazu sind die Erwartungen und Bedürfnisse der einzelnen Zielgruppen in den verschiedenen Branchen zu unterschiedlich. Zudem kann man den Erfolg komplexer Innovationen nicht auf dem Papier planen, da Ihre Akzeptanz durch die Kunden im Geschäftsalltag nicht vorhersagbar ist. Wie Untersuchungen zeigen, wird ein wesentlicher Erfolgsfaktor intelligenter Technologien im Einzelhandel in der Einhaltung hoher Datenschutz-Standards liegen. Was jetzt darüber hinaus notwendig ist, ist eine mutige Erprobungsphase, in der einzelne Elemente testweise eingeführt, kritisch evaluiert und im Einzelfall auch wieder verworfen werden. Die Fülle der Möglichkeiten kann heute nur erahnt werden, da die Entwicklung gerade erst begonnen hat. Es wird einige Zeit brauchen, herauszufinden, welche Konzepte für den intelligenten Einzelhandel langfristig erfolgreich sind und welche nur für kurzfristige Belebungen sorgen. Im besten Falle wird das Ladengeschäft zu einem Katalysator der ökonomischen Wertschöpfung, der nicht nur die virtuellen Erwartungen und Leidenschaften der Kunden, sondern auch ihre sozialen und sinnlichen Bedürfnisse auf unterhaltsame und informative Weise erfüllt.

Quellen:

[1] Total Retail 2015: Retailers and the Age of Disruption (PricewaterhouseCoopers, 2015)
[2] Global Powers of Retailing 2015: Embracing innovation (Deloitte, 2015)
[3] Dem Kunden auf der Spur. Wie wir in einer Multichannel-Welt wirklich einkaufen (Roland Berger/ECE, 2013)


Über den Autor

Thomas Jäger

Thomas Jäger ist bei Chapman Taylor Düsseldorf als Projektleiter und Leiter der Kostenplanung tätig. Er hat mehr als 10 Jahre Erfahrung in der Planung und Ausführung von Handelsimmobilien, Büros, Hotels, sowie Freizeit- und Bildungseinrichtungen. Seinen Diplomabschluss in Architektur erwarb er an der Technischen Universität Braunschweig, wo er sich mit der Geschichte und Theorie multifunktionaler Großkomplexe und den Auswirkungen des Internets auf die gebaute Umwelt beschäftigte. In der Frühzeit des Internets konzipierte er als Web-Entwickler für das deutsche DAX-Unternehmen Continental AG den ersten Online-Shop.

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