Deutschland: Online und / oder Stationär?
Deutschland: Online und / oder Stationär?
In diesem Artikel untersucht Jens Siegfried die Auswirkungen des weiterhin stark wachsenden E-Commerce auf die Entwicklung von Einkaufszentren und die Struktur der Innenstädte. Es werden Ansatzpunkte aufgezeigt, wie sich die gebaute Einkaufsumgebung entwickeln muss, um gegenüber dem Online-Handel konkurrenzfähig zu bleiben.
Seit Jahren verzeichnet der E-Commerce Wachstumsraten, von denen der stationäre Einzelhandel weit entfernt ist; dank Smartphones und Online-Shopping können Kunden heute immer und überall einkaufen. Inzwischen entfallen mehr als 9 % des gesamten Einzelhandels auf den Online-Handel, mit weiterhin zweistelligen Zuwachsraten. Was bedeutet dies für die Entwicklung von Einkaufszentren und die Struktur unserer Innenstädte?
Während Viele den stetig steigenden Onlinehandel bereits als Totengräber des stationären Handels ausgemacht haben, gibt es sowohl national als auch international bereits eine Vielzahl realisierter Bauvorhaben, die beispielhaft zeigen, welche Chancen in dieser Entwicklung liegen – sowohl für die Weiterentwicklung des Bautypus „Einkaufszentrum“ als auch für die Entwicklung unserer Innenstädte.
Der bereits seit längerem erkennbare Trend „Zurück in die Innenstadt“ geht Hand in Hand mit einer immer stärkeren städtebaulichen Integration und Öffnung der Shopping Center zum umgebenden Stadtraum. Während z.B. die unterschiedlichen Gebäude des 2003 eröffneten Bullring Einkaufszentrums in Birmingham noch durch eine unterirdische Mall miteinander verbunden waren, sind in Großbritannien in der Folge immer offenere Einkaufszentren und durchmischte Stadtquartiere in integrierten Lagen entstanden.
Vorzeigeprojekte wie Princesshay in Exeter, Liverpool One, Cabot Circus in Bristol oder das 2013 eröffnete Trinity Leeds sind architektonisch differenzierte, offene, innerstädtische Quartierszentren, die nicht nur sich selbst genügen, sondern einen positiven Impuls für die zukünftige Entwicklung der gesamten Innenstadt geben.
Trinity Leeds steht beispielhaft für diese Entwicklung eines baulich dichten, städtebaulich integrierten und funktional gemischt genutzten Stadtquartiers: vorhandene Straßenbezüge wurden aufgenommen und fortgeführt und führen auf einen zentralen öffentlichen Platz, der von einem großen, freitragenden Glasdach überspannt wird – es entsteht ein neuer urbaner Raum in der Stadt. Es gibt keine Türen, d.h. die Grenzen zwischen öffentlichem und privatem Raum werden fließend. Mehr als 22 Millionen Besucher im ersten Jahr scheinen ein guter Indikator dafür zu sein, das offene innerstädtische Quartierszentren von der Bevölkerung gut angenommen werden und eine realistische Alternative zu den herkömmlichen geschlossenen Einkaufszentren darstellen können.
Ganz so weit ist die Entwicklung in Deutschland noch nicht - zwar gibt es auch hier mittlerweile einige gelungene Beispiele, wie z.B. die Fünf Höfe in München oder hybride Projekte, die offene Räume mit geschlossenen Ladenstraßen verbinden, wie das Reschop Carrè in Hattingen und das 2014 eröffnete Milaneo in Stuttgart - aber nichts was in Größe und Bedeutung dem Vergleich mit den vorher genannten Beispielen standhält. Dies liegt allerdings auch darin begründet, dass es in Deutschland sehr schwierig, um nicht zu sagen so gut wie unmöglich ist, zusammenhängende Entwicklungsareale von mehreren Hektar in guten Innenstadtlagen zu arrondieren.
Eine Ausnahme dürfte das derzeit in der Entwicklung befindliche Südliche Überseequartier in der Hamburger Hafencity sein. Hier soll ein neues Stadtquartier mit rd. 260.000 qm Bruttogeschoßfläche für Handel, Kultur und Freizeit, Wohnen, Büro, Hotel und einem neuen Kreuzfahrtterminal entstehen - offen und urban, nicht klimatisiert aber gleichzeitig witterungsgeschützt – eine einmalige Chance für den Standort, hoffen wir das sie auch genutzt wird.
What’s next?
Als Architekten haben wir den Anspruch, für die Zukunft relevante Gebäude zu entwickeln, die einen Mehrwert generieren – Gebäude die gleichzeitig ästhetisch, erlebbar und Ressourcen sparend sind und dabei auch die ökonomischen Belange unserer Auftraggeber berücksichtigen.
Der Wandel des Einkaufszentrums von einem austauschbaren, funktionalen Zweckbau hin zu einem individuellen Ort der Erfahrung, der Emotion und der Begegnung, in dem die Besucher Zeit verbringen, weil sie sich wohlfühlen, Freunde treffen und selbstverständlich auch konsumieren, geht Hand in Hand mit einem gestiegenen Anspruch der Verbraucher an Städtebau, Architektur, Maßstab, Vernetzung und Individualität.
Die Marktmacht der Verbraucher nimmt als Folge der immer rasanter fortschreitenden Digitalisierung immer mehr zu, sie suchen das Individuelle, Außergewöhnliche - trendige Shops, Bars, Restaurants, Ambiente. Dieser Herausforderungen müssen sich alle an der Realisierung Beteiligten stellen - Projektentwickler, Architekten, der Handel, Center Management, usw.
Mit immer offeneren Gestaltungsansätzen versuchen Architekten, Einkaufszentren nachhaltig in bestehende Strukturen einzubinden und standortspezifisch adäquate Lösungen zu entwickeln, damit zukunftsfähige Stadtstrukturen und vitale Quartiere entstehen, die von Nutzern, Bewohnern und Besuchern gleichermaßen wertgeschätzt werden.
Ob das Forum Duisburg, die Hoftstatt in München oder das jüngst eröffnete Forum Hanau – sie alle unterscheiden sich deutlich von Einkaufszentren herkömmlicher Prägung, indem sie den jeweiligen urbanen Kontext aufgreifen und z.B. Bestandsgebäude integrieren, offene Innenhöfe mit Gastronomie neu beleben und Höfe und Passagen mit Außenraumcharakter schaffen.
Neben einem hohen Maß an Individualität und Aufenthaltsqualität müssen dabei Gebäudestrukturen entwickelt werden, die in der Lage sind, flexibel auf die zunehmende Schnelllebigkeit von Handels – und Gastronomiekonzepten reagieren zu können. So liegt z.B. der Gastronomieanteil in Einkaufszentren mittlerweile bei rd. 15%, Tendenz steigend – die zunehmende Integration von qualitativ hochwertigen Gastronomiekonzepten oder auch der aktuelle Street-Food-Boom stehen beispielhaft für den Wandel der Konsumentenbedürfnisse.
Wenn die Einkaufszentren der Zukunft jetzt also als offene, innerstädtische Quartiere konzipiert werden, als urbanes Stück Stadterneuerung oder Erweiterung, dann muss gleichzeitig darüber nachgedacht werden, mit welchen Mitteln es gelingen kann, dass in diesen Quartieren die gewünschte Lebendigkeit entsteht, die wir aus unseren gewachsenen Innenstädten kennen. Ein Ansatz kann dabei die zunehmende Integration von Freizeit – und Entertainmentangeboten sein – viele Jahre ein absolutes „no-go“ in Deutschland, aber vor dem Hintergrund der neuen Herausforderungen sicherlich ein interessanter Ansatz der z.B. in Großbritannien bereits sehr erfolgreich umgesetzt wird.
Das dies Hand in Hand mit einer Lockerung der zurzeit noch sehr starren, gesetzlichen Ladenöffnungszeiten von statten gehen muss, damit die gewünschten Synergien zwischen Handel, Gastronomie und Freizeit entstehen können, versteht sich von selbst.